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Minderwertigkeit als Schutz: Warum wir unseren Selbstwert nicht spüren (wollen) 

 

 

Selbstwert als Wunschobjekt

Sich wertvoll fühlen, niemandem beweisen müssen, dass man wertvoll ist, nicht über Leistung, über teure Klamotten oder ein neues Auto, sich für nichts schämen müssen – eine Wunschvorstellung, die sich viele Menschen teilen. Im Netz finden sich zahlreiche Tests und Ratgeber, die versprechen, dem Geheimnis des Selbstwertgefühls auf die Schliche zu kommen. Relativ leicht lässt sich ein Mangel an Selbstwertgefühl feststellen. Einen Test braucht man dazu meist nicht, denn jeder Mensch ist imstande sich da treffend einzuschätzen, sofern er ein Interesse an diesem Thema mitbringt. Ab da wird es meist schwieriger: Wie lässt sich das Selbstwertgefühl verbessern? Wie lässt sich der Selbstwert steigern? Die Ratgeber sind voller guter Tipps, die aber v. a. bei den Menschen zu funktionieren scheinen, die eh keine größeren Probleme haben. Alle anderen bleiben ggf. mit einem noch stärkeren Mangelgefühl zurück, gar nichts mehr hinbekommen zu können. Nicht einmal sich wertvoll fühlen können sie, als wäre das etwas, was man durch das Lesen psychologischer Ratgeber erreichen könnte. Und nun?

Wert, Preis und Würde

Selbstwert heißt eben Selbst-Wert und nicht Selbst-Preis und ist mit der Würde – nicht nur sprachlich – eng verwandt. Die Würde impliziert, dass jeder Mensch per se wertvoll ist, alleine dadurch, dass er lebt. Unser Kopf-Konzept von Selbstwert ist aber eher mit dem Konzept des Preises zu vergleichen. Der Preis kann zu niedrig, zu hoch oder genau richtig sein, so wie das Selbstwertgefühl manchmal als zu niedrig oder als übersteigert (→ Arroganz!) eingeschätzt wird. Das hat mit der wahren Natur des Selbstwerts nichts zu tun, denn der Selbstwert hat nur einen Wert: sich selbst. Das andere Konzept müsste dann korrekterweise Selbst-Preis heißen. Dazu würde auch passen, dass wir dann denken, wir müssen etwas leisten oder uns etwas Tolles kaufen, um den Selbst-Preis entsprechend zu bestätigen oder nach unserem Wunsch zu verändern. Das ist aber nicht das, wonach sich die meisten Menschen sehnen. Zurück bleibt das Empfinden einer Lücke oder einer Leere. Und von Scham.

Die Scham als Wegweiser

„Die Scham zu fühlen ist gar nicht so schlimm!“ - sagte zu mir die Klientin zum Ende der heutigen Sitzung hin. Scham ist nicht gleich Scham. Bei Scham denken wir meist an ihre toxische Variante, die durch Liebesentzug, eisiges Schweigen und Beziehungsabbruch entsteht – ein vernichtendes Gefühl, das den Selbstwert negiert. Die toxische Scham spricht einem das Existenzrecht ab und ist mit Trauma eng verwandt.

An dieser Stelle geht es aber um die gesunde Scham, die die Grenzen markiert. Die eigenen, aber auch die fremden. Und so führte die Scham die Klientin an den Punkt, ihre Beziehungen überprüfen und ihren Beziehungspartnern Grenzen aufzeigen zu müssen. Letzteres gelang dadurch, dass sie sie mit ihrem übergriffigen Verhalten konfrontierte und so in ihnen Scham auslöste. Ihre Grenzen wurden wiederhergestellt und sie konnte über die Beziehungen neu entscheiden. Die Annahme der Selbstverantwortung, der eigenen Scham und der Grenzen konfrontierte sie mit zwei Dingen: der Sehnsucht nach dem Selbstwert und ihrer Minderwertigkeit.

Minderwertigkeit als Persönlichkeitsmerkmal

Wir haben eine Vorstellung von Minderwertigkeit als einem Persönlichkeitsmerkmal. In unserem Leben ist etwas passiert, meist eine gravierende emotionale Verletzung, die unseren Selbstwert herabgesetzt hat. Diese Sichtweise ist weit verbreitet und von der emotionalen Seite der Verletzung / den Traumata her gesehen sicher richtig. Ich lade Sie trotzdem ein, diese Sichtweise kurz beiseite zu legen und die Minderwertigkeit als Schutzmechanismus zu betrachten.

Minderwertigkeit als Schutz

Das ist sicherlich eine ungewohnte Betrachtungsweise: Minderwertigkeit ist demzufolge nicht etwas, was mit mir passiert ist, z. B. durch eine Verletzung, sondern etwas, was ich wähle, um mich zu schützen! (Unbewusst) entscheide ich mich dafür, mich minderwertig zu fühlen und meinen Selbstwert nicht anzunehmen. Klingt verrückt? Ist es aber nicht! Denn auch die Minderwertigkeit hat viele Vorteile. So schützt sie vor tieferen Gefühlen, vor der eigenen Sensibilität, vor Klärungen in Beziehungen, vor der eigenen Kraft und den daraus resultierenden Ideen und Handlungsimpulsen, vor einer strahlenden Haltung, mit der andere Menschen ein Problem bekommen könnten, vor der Klärung der Loyalitätsfrage, vor Risiken und Neuem und vor der eigenen Wahrheit.

Interessant ist die Loyalitätsfrage. Auch bei der besagten Klientin wurde die Minderwertigkeit als Überlebensmuster in der Familie weitervererbt. Alle wurden darauf geeicht. Sie hat ihre Sehnsucht nach (dem wahren) Selbstwert behalten und konnte den Selbstwert erst dann annehmen, als sie sich die Erlaubnis gab, etwas zu haben, was andere ihr nahestehenden Menschen niemals hatten und wahrscheinlich nie haben werden. Zuvor hat sie in anderen Aspekten ihres Lebens nach einer Erlaubnis gewartet, konnte aber nicht verstehen, wozu sie überhaupt eine Erlaubnis von jemandem braucht, um sich z. B. etwas von ihrem eigenen Geld kaufen zu können. So erschloss sich der tiefere Sinn ihres Zweifelns und ihres Wartens auf DIE Erlaubnis. Sie gab sich DIE Erlaubnis und erlebte dann die Annahme ihres Selbstwerts als spirituelles und berührendes Erlebnis.

Entscheidet man sich für den Selbstwert, erwachsen daraus auch entsprechende Handlungsimpulse, z. B. bestimmte Dinge zu klären oder nicht mehr zu machen oder Neues anzufangen. Um zum Selbstwert zu gelangen und ihn annehmen zu können, muss aber auch die Scham angenommen werden. Überhaupt: In unserem Kopf-Konzept sind Scham und Selbstwert zwei Dinge, die sich ausschließen. In unserer Vorstellung schämt sich jemand, der mit seinem Selbstwert verbunden ist, nicht und fühlt sich immer toll. Das ist ein Trugschluss. Ein gesunder Selbstwert setzt auch gesunde Scham voraus. Auf der spirituellen Ebene verschmelzen sogar diese zwei scheinbaren Gegensätze. Und es heißt nicht, dass man sich immer toll fühlt. Der Selbstwert kann ein Handeln erfordern, z. B. dass man in einer Beziehung Tacheles redet. Das kann aufregend, mit Schamgefühlen und Überwindung verbunden und einfach unangenehm sein. Den Selbstwert setzt es keinesfalls außer Kraft, ganz im Gegenteil. Dieses Handeln ist erforderlich, um die Selbstwertverbindung aufrechterhalten zu können. Und es kann sich in dem Moment oder auch noch davor und danach unangenehm anfühlen. Man könnte sogar sagen: Je besser man mit dem Selbstwert verbunden ist, desto besser kann man auch solche Gefühle wie Scham, Schuld, Wut, Trauer usw. annehmen und ausdrücken. Im Idealfall erlebt man die komplette Gefühlspalette, ohne eine Abweichung im Selbstwert zu erfahren. Das heißt, dass auch sogenannte positive Gefühle, wie Freude, Zufriedenheit usw., das Selbstwertempfinden nicht (nach oben) verändern.

Hochsensible trifft es doppelt

Minderwertigkeit ist ein Familienmuster, das wir individuell nachleben, aber auch ein gesamtgesellschaftliches. "Höher, schneller, besser, mehr" ist allgemein bekannt. Fortschritt und Wirtschaftsleistung sind in. Überhaupt Leistung. DER Beweis, dass man zu irgendetwas gut ist. Dieser Druck trifft hochsensible Menschen doppelt. Sie spüren den Druck, den andere auch spüren und mit dem alle umgehen müssen  – meistens verinnerlichen wir ihn einfach. Und sie spüren, dass sie noch einmal anders sind als die anderen, dass sie nicht so viel leisten können und anders wahrnehmen. Das Abspalten der eigenen Hochsensibilität erzeugt wiederum Symptome, die die Leistungsfähigkeit mindern und auch in die Krankheit oder in die Depression führen können. Es sind dann zwei Baustellen, die schmerzen. Ein Teufelskreis, der einen zum Verzweifeln bringt.

Linderung und eine erste Annährung verschafft Musik. Ein eigenes Instrument ist da Gold wert. Bei mir war es eine E-Gitarre. Bei meinen Klienten sind es bislang Klavier, Harfe, Akkordeon, die eigene Stimme. Falls Sie schon immer ein bestimmtes Instrument haben wollten: Kaufen Sie es. Alleine seine Präsenz ändert etwas.

Der Selbstwert ist immanent

Entschuldigen Sie das Fremdwort. „Immanent“ gefällt mir gut, weil es den Nagel auf den Kopf trifft. Immanent ist so etwas wie innewohnend, also bereits vorhanden. So wie die Würde ist auch der Selbstwert immer da, unabhängig davon, ob wir damit verbunden sind oder nicht. Meine Klientin hat am Ende der Sitzung festgestellt, dass der Selbstwert v. a. im Bauch sitzt. Gesucht hatte sie ihn im Kopf. Dort war er nicht zu finden, dafür aber woanders.

Fazit? Der Selbstwert ist immer da. Wir wollen ihn nicht annehmen. Und wir haben verdammt gute Gründe, warum wir ihn nicht annehmen wollen. Wir entscheiden uns (unbewusst) für die Minderwertigkeit, denn sie gibt uns Schutz (auch vor den eigenen Traumata, auch wenn die Minderwertigkeit diesen Traumata entstammt). Wenn man will, kann man es ändern und den Selbstwert annehmen. Dafür braucht es Mut zur Klärung.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Fühle ich mich minderwertig? Grundsätzlich? Oder nur in bestimmten Situationen? Oder nur mit bestimmten Menschen?

  • Wie lange beschäftigt mich bereits das Thema Minderwertigkeit und Selbstwertgefühl? Mein ganzes Leben lang?

  • Betrachte ich das Gefühl der Minderwertigkeit als eine Art Persönlichkeitsmerkmal? Ist die Minderwertigkeit ein Teil meiner Identität?

  • Kann ich (ein Stück) die Betrachtungsweise annehmen, dass ich mich für die Minderwertigkeit entscheide, um mich vor anderen Dingen und Entscheidungen zu schützen? Oder löst diese Betrachtungsweise heftige Abwehr in mir aus? Oder einfach nur Unverständnis?

  • Wäre ich bereit zu erforschen, welche Punkte geklärt werden müssen, damit ich meinen Selbstwert annehmen kann? Oder jagt mir diese Vorstellung höllische Angst ein?

 

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