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Selbstwertgefühl vs. Schamgefühl

 

Inhaltsverzeichnis

 

Gefühlt 1000 Ratgeber geben Tipps, wie man sein Selbstwertgefühl verbessern kann. Kann man das? Ist das ein Holzweg? Nur so eine Art Trick, damit wir denken, wir könnten es ändern? Ändert sich wirklich etwas?

Eine Erfahrung aus der Praxis

Neulich berichtete eine Klientin, dass sie nach ihrer ersten Sitzung praktisch schamfrei durch ihr privates und berufliches Leben ging – ein großer Erfolg für sie! Eine Sitzung. 2 Stunden, in denen sie sich mutig mehrere Themen angeschaut und ein großes gelöst hast. Am Ende hat sie sich selbst genähert, war mehr bei sich als jemals zuvor. Und die Schamgefühle? Sie gingen ganz von alleine zurück. Ohne irgendwelche Tipps, ohne irgendwelche Strategien und Reflexionen. Wie ist das möglich?

Der Ursprung der Schamgefühle und ihre Lösung durch Selbstverbindung

Zum Einen habe ich – das ist ein Erfahrungswert durch meine Arbeit – eine sehr starke Annahme, dass wir Schamgefühle erleben, wenn wir uns selbst nicht entsprechen. Wir versuchen es kognitiv zu begreifen, indem wir uns mit anderen vergleichen, uns bei irgendwelchen Äußerlichkeiten aufhalten oder es an der Leistung, die wir erbringen festmachen. Befriedigend ist es dann nicht. Die Kognition sagt häufig, dass das vielleicht gar nicht der Grund ist, sagt aber auch nicht, WAS der Grund ist. Die Gedanken kreisen, wir fühlen uns elend. Nähert man sich selbst, seinem inneren Kern, gibt es auch weniger bzw. keinen Grund mehr sich zu schämen. Ganz ohne kognitive Anstrengung. Es ist wie ein Wahrnehmungsschift. Auch das Körpergefühl, das Selbstgefühl ist ein anderes: stabil und fließend, liebevoll-annehmend.

Eingeimpfte, toxische Schamgefühle

Zum Anderen gibt es auch eingeimpfte Schamgefühle. Sie können übernommen worden sein, z. B. durch Gewalterfahrungen. Die Schamgefühle des Täters werden vom Opfer übernommen. Löst man das Gewalttrauma auf, entlässt den Täter energetisch und befreit das Opfer aus der Erstarrung, spricht die Wahrheit über das Gewalttrauma aus, werden auch die Schamgefühle komplett durchlebt und / oder entlassen. So ein Schamgefühl ist übrigens toxisch. Es bindet einen an den Täter-Opfer-Kreislauf oder an eine alte Loyalität, z. B. aus der eigenen Bindungsgeschichte oder aus einem (sexuellen) Übergriff. So verhält man sich anderen gegenüber nachsichtiger, empathischer und freundlicher als zu sich selbst. Tut man etwas für sich, schämt man sich dafür, denn – das ist einem eingeimpft worden – man sei egoistisch.

Gesundes Schamgefühl und sein Missbrauch

Es gibt natürlich auch gesunde und konstruktive Schamgefühle. Als Menschen sind wir unvollkommen. Wenn wir an unsere Grenzen gelangen, kann es passieren, dass wir uns schämen. Es ist die Chance, die eigenen Grenzen anzuerkennen und Frieden damit zu schließen. Oder wir verletzen die Grenzen von jemand anders und schämen uns dafür. Die Scham sagt uns, dass wir uns energetisch aus dem Bereich des anderen zurückziehen sollen. Scham bewirkt ja dieses Gefühl des Rückzugs, in diesem Fall berechtigt, da wir nichts in fremden Bereichen zu suchen haben. Destruktiv wird es, wenn wir uns dafür schämen, unseren eigenen Bereich einzunehmen und zu vertreten. Jemand hat uns eingeredet, es wäre egoistisch und rücksichtslos. Dieser Jemand wollte bewusst oder unbewusst seinen Bereich auf unsere Kosten ausdehnen und hat das Spiel gespielt, dass ich „Verdrehen“ nenne. Sich selbst hat dieser Mensch als Retter, als selbstlos, als jemand, der uns beschützen will, aufgespielt. „Es sei nur zu deinem Besten.“ Unsere gesunde Abwehr dagegen, unsere Wut, unsere Bestrebungen uns zu verteidigen hat er als egoistisch etikettiert. Haben wir dieses Spiel nicht mitgespielt, hat dieser Jemand den Druck erhöht, solange bis wir nachgegeben haben und diesem Jemand mehr Glauben geschenkt haben als uns selbst. Ganz schön verrückt. Auch die eigenen Grenzen und das eigene Empfinden sind dadurch ver-rückt geworden. Und so schämen wir uns für etwas, wofür wir nichts können. Aber auch für etwas, wofür wir etwas können, auch wenn die Umstände nichts anderes zugelassen haben: Dass wir uns selbst nicht entsprachen und weiterhin nicht entsprechen. Wie gut, dass sich Letzteres ändern lässt. Ja, es ist unangenehm. Ja, es ist auch im Prozess mit Scham- und sogar mit Schuldgefühlen behaftet. Und es ist auch beschämend, es sich einzugestehen. Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt. Und ich bin gespannt, was die Klientin nach ihrer zweiten Sitzung berichten wird, in der sie sich mit einem weiteren tiefen Trauma auseinandergesetzt hat.

 

P. S.: An dieser Stelle verweise ich gern auf den Artikel meiner Kollegin Lidia Schladt zum Thema Scham. Er erhält einige andere bzw. weiterführende Informationen.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Kenne ich unerklärliche Schamgefühle? In welchen Situationen? In welcher Ausprägung? Wozu zwingen sie mich?
  • Kann ich mir vorstellen, dass die Schamgefühle mich auf etwas Wichtiges hinweisen wollen, was ich in meinem Leben bislang vernachlässigt habe? Wenn ja, was könnte es sein? Inwiefern gestalte ich mein Leben nach meinen (inneren) Vorstellungen, die ganz anders als die meines Umfeldes sein könnten? Inwiefern folge ich meinem inneren Kompass? An welchen Stellen habe ich mich selbst verraten und verkauft? An wen? Wofür?
  • Habe ich Berührungsängste mit dem Thema "Scham und Selbstwert"?
  • Habe ich Traumata erlebt? Z. B. Gewalterfahrungen, durch die ich die Scham des Täters verinnerlicht habe?
  • Habe ich schon einmal meinen bedingungslosen Selbstwert gefühlt und vollumfänglich gespürt? Spüre ich die Verbindung zu meinem inneren Kern? In bestimmten Situationen, z. B. in der Natur? Oder mit bestimmten Menschen? Oder spüre ich sie gar nicht? Versuche ich sie zu finden? Wenn ja, wie?
  • Wie stehe ich zu meinem bedingungslosen Existenzrecht? Habe ich ein stabiles Selbstwertgefühl und fühle ich, dass ich genau dasselbe Recht zu leben habe wie alle anderen auch? Oder spüre ich Selbstwertprobleme und stehe nicht zu meiner eigenen Existenz? Spreche ich mir die Berechtigung (voll und ganz) zu existieren vielleicht sogar ab?
  • Erkenne ich meine menschliche Vergänglichkeit und Verletzlichkeit an? Kann ich die Scham über meine ganz normale menschliche Unzulänglichkeit zulassen? Kann ich Schamgefühle zulassen, wenn ich die Grenzen eines anderen Menschen verletzt habe? Folge ich dann diesem gesunden Schamgefühl, das mich zum Rückzug bewegt? Oder verfalle ich stattdessen in Täter-Opfer-Kreisläufe, greife den anderen an, äußere Vorwürfe?
  • Kann ich mir vorstellen, im Rahmen eines therapeutischen Prozesses mein aktuelles Ich, also meine aktuelle bewusste psychische Funktion, sterben zu lassen, um – wie der Phönix aus der Asche – neugeboren zu werden mit einem neuen Ich, das viele alte Konflikte und Probleme gar nicht mehr kennt? Oder jagt mir alleine diese Vorstellung schon Todesangst ein?
  • Gibt es einen Menschen, einen Freund oder einen professionellen Begleiter, mit dem ich offen über dieses Thema reden kann? Oder habe ich andere Wege gefunden, diesem Thema Ausdruck zu verleihen? Z. B. indem ich mich künstlerisch ausdrücke?
  • Was ist der Sinn des Lebens? Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist meine Berufung? Habe ich sie bereits gefunden?

 

 

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