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Fremde Gefühle?

 

Inhaltsverzeichnis

 

Neulich habe ich einen kleinen Einblick in eine kollegiale Arbeit geteilt mit folgendem Vermerk: Ordentlich Ordnung ins System gebracht. Ein harter Brocken, der sich auf vielen Ebenen gelohnt hat! Hinten im Bild das Universelle: die Materie, die Lebenszeit und das Vertrauen. In der Mitte L. sich selbst / ihrem Selbst zugewandt mit ihrem höchstlebendigen Selbstausdruck. Die inneren und äußeren Konflikte wurden geklärt und die fremden Elemente entfernt.

Darauf erhielt eine interessante Frage, die ich zitiere: „Wie können fremde Gefühle im System unterschieden werden? Was ist meins und was gehört dir?“ Ich fing an, einen Antwort-Kommentar zu schreiben und stellte schnell fest, dass die Antwort einen Kommentar sprengen würde. Ich ging auf die Frage auf die Schnelle ein und versprach, einen Artikel dem Thema „fremde und eigene Gefühle“ zu widmen.  

Was sind überhaupt fremde Gefühle? Wie können Gefühle fremd sein?

Unsere Psyche besteht aus verschiedenen Anteilen. Einige von ihnen sind sehr gesund und gehören wirklich zu uns. Die haben sich entwickeln im Laufe der gesunden Auseinandersetzung mit der Umwelt, durch gesunde liebevolle Beziehung, durch das Annehmen schwieriger Gefühle und das Gehalten- und Reguliert-Werden durch die wichtigen Bezugspersonen. Das war nicht in jeder Situation möglich und so haben wir alle einige unverdaute Blöcke. Um mit ihnen umgehen zu können haben wir Überlebensstrategien entwickelt. Auch wenn diese unverdauten Blöcke aus unserem eigenen Leben stammen, können sie fremde Anteile enthalten, denn meist sind sie in Beziehung zu einem anderen Menschen, einer wichtigen Bezugsperson, entstanden. Stellen wir uns vor, ein Kind hat Gewalt durch seine Eltern erlebt. Um die Bindung zu den Eltern aufrechtzuerhalten, versucht das Kind das Bild der liebevollen Eltern aufrechtzuerhalten. Es lädt Schuld auf sich: „Ich habe es verdient. Ich habe mich schlecht benommen.“ Dabei kann es auch die Schuld- und Schamgefühle der Täter verinnerlichen. Da das Kind in einer Beziehung, die z. B. durch Gewalt gekennzeichnet ist, sich nicht abgrenzen darf, schwappen die Gefühle seiner Eltern auch zu ihm rüber. In einer gesunden Beziehung hat jeder sein eigenes Glas. In einer durch Gewalt gekennzeichneten Beziehung trinken alle aus demselben Krug. So kriegt auch jedes Familienmitglied dasselbe zu trinken, inkl. aller „Giftstoffe“, und entwickelt eigene Überlebensstrategien im Umgang damit. Und so landen im Krug auch all die Gefühle, auch die verdrängten der Eltern, z. B. aus ihren Beziehungen zu ihren eigenen Eltern. Ein giftiger Cocktail, der über Generationen weitergereicht wird! Wer zur Familie dazugehören will – und das will jedes Kind – muss daraus trinken!

Die Übernahme fremder Gefühle und Muster kann auch schon viel früher erfolgen. Beispiel: Eine Frau wird schwanger und ist erst einmal schockiert. Das Baby erlebt den Gemütszustand und auch den körperlichen Zustand (Das Stresssystem der Mutter wird aktiviert!) vollumfänglich mit. Es wird im Körpergedächtnis abgespeichert und kann eine Grundlage seines Gefühls, wie es sich in der Welt sieht, z. B. „Ich bin nicht willkommen“ bilden. Später wird dieser Mensch vielleicht alles haben: einen liebevollen Partner, ein schönes Zuhause, eigene Kinder, einen guten Beruf – und sich trotzdem wundern, warum er sich unzufrieden, nicht wertvoll, abgelehnt usw. fühlt.

Wie lassen sich fremde von eigenen Gefühlen im Alltag unterscheiden?

Im normalen Leben ist es gar nicht so einfach. Jedes Gefühl fühlt sich erst einmal verdammt echt und authentisch an. Es gibt aber ein paar Orientierungspunkte: Traumagefühle bzw. Gefühle, die auch alt sind, haben häufig Fremdanteile und äußern sich dadurch, dass sie nicht abflachen und manchmal stunden- oder tagelang anhalten. Die Gefühle können auch häufig irrational und unerklärbar erscheinen. Oder es fühlt sich so an, als wäre das alles zu viel für einen Menschen. Letzteres ist ein ziemlich zuverlässiges Anzeichen, dass da Fremdes mit dabei ist. Ein situationsangemessenes Gefühl kommt hingegen wie eine kurze Welle, erreicht einen Höhepunkt und führt zu einem konkreten Handeln. Wenn man z. B. tagelang weint, könnte man sich durchaus auch fragen, ob man nicht auch fremde Tränen weint. 

Wie lassen sich fremde von eigenen Gefühlen in der Therapie unterscheiden?

In der Therapie kommt häufig eine Schwere auf. Manche Klienten beschreiben, dass da jemand oder etwas ist. Manchmal im Rücken, in den Schultern. Als würde etwas oder jemand auf sie drücken. Ansonsten sind die Anzeichen ähnlich wie im Alltag. Wenn jemand in einer Therapiesitzung so einen Gefühlscocktail erlebt, den er sich beim Trinken aus einem Krug mit anderen einverleibt hat, bekomme ich dazu eine besondere Resonanz im Körper. In Worten lässt sich das nicht erklären und ist tatsächlich Übungssache. Als Therapeut wird man im Laufe der Ausbildung darauf geeicht, es zuverlässig zu erkennen. Der eigene Körper dient dabei als so eine Art Messinstrument. Das Übernommene / das Unerlöste fühlt sich einfach anders an als das Eigene. Letzteres ist frei, offen und braucht keine Worte. Ja! Wo wir beim Thema Worte sind. Ein ziemlich zuverlässiges Anzeichen, das sich da was vermischt, ist das viele Reden. Viel erklären, sehr genau beschreiben, noch mehr Details angeben wollen, relativ schnelles Sprechtempo – das sind recht zuverlässige Anzeichen, dass da mehr im Hintergrund lauert. Und nein, darüber reden hilft nicht, sondern dient häufig ganz im Gegenteil als Ablenkung und Vermeidung.

Wie lassen sich fremde von eigenen Gefühlen in der Aufstellungsarbeit unterscheiden?

In der Aufstellungsarbeit lassen sich eigene und fremde Gefühle relativ leicht Schritt für Schritt zerlegen. Wichtig ist, dass man dabei keine Eile hat, kein hohes Tempo. Weniger ist mehr. Langsamer ist schneller. Aus meiner Therapeutensicht ist es zwar relativ offensichtlich, dass da etwas Fremdes, Übernommenes ist, für den Klienten fühlt es sich aber meistens so an, als wäre es etwas Eigenes. Dazwischen ist eine dicke Schicht Schutz. So, dass man nicht direkt zum Zerlegungsprozess kommen kann. Der Schutz würde das niemals zulassen. Ein Kampf gegen den Schutz, auch Abwehr genannt, ist sinnlos. Daher gilt: die Jetzt-Situation anschauen und annehmen, das hintergründige Thema identifizieren, Ressourcen sammeln, mit dem Schutz zusammenarbeiten. Erst im letzten Schritt öffnet sich das Tor zur Lösung. „Lösung“ im buchstäblichen Sinne. Fremdes und Eigenes werden voneinander gelöst. Das Eigene wird nach Möglichkeit integriert und das Fremde entlassen.

Für alle, die diese Prozesse nicht kennen, klingt das sicherlich sehr abstrakt. Einfacher ist es mit einem Beispiel. Beachten Sie bitte, dass ich den Prozess etwas vereinfacht darstelle, als er tatsächlich abläuft. Ich stelle mir vor, jemand kommt und sagt, ich hätte gern mehr Liebe in meinem Leben. Lasse ich die Person „Ich“ und „Liebe“ aufstellen, wird man sehen können, ob das Ich und die Liebe überhaupt in Kontakt sind. Schritt für Schritt ist vielleicht ein kurzes Hingucken, ein Blickkontakt möglich. Dann kommt die erste Abwehr auf. Zum Beispiel das Gefühl, die Liebe nicht verdient zu haben, ihr nicht zu genügen. Das ist etwas Erlerntes und ggf. teils Übernommenes. Ich lasse nachforschen, ob dem Klienten eine bestimmte Situation oder eine Person einfällt. Wessen Liebe hat er oder sie Angst zu verlieren? Bei welcher Person ist es am schlimmsten? Typischerweise sind es die eigenen Eltern. Das, wovor man so viel Angst hat, ist übrigens bereits geschehen und hat unglaublich wehgetan, daher kommt ja auch die Vermeidung. Bleiben wir beim klassischen Mutter-Thema. Da gehören zwei dazu: Die Mutter, die nicht genug geliebt hat, und das Kind, das sich nicht geliebt fühlte. Ich lasse beide getrennt aufstellen, genau aus dem Grund, dass deutlich werden soll, was zu wem gehört. Im System des Klienten waren diese 2 Anteile bislang als ein Verschmolzenes abgespeichert. Das sieht man häufig an der Farbauswahl. Für die Mutter und für das Kind werden Bodenanker in sehr ähnlichen Farben gewählt, z. B. dunkelbraun und hellbraun. Durch das Zerlegen in diese 2 Einzelteile wird im Prozess deutlich, was zu wem gehört. Die Wutgefühle, etwas Lebenswichtiges nicht bekommen haben, gehören eindeutig zum Kind, also auch zum Klienten. Die Einsicht, es nicht bekommen zu haben und nie wieder bekommen zu können, lösen Trauer aus, die ebenfalls zum Klienten gehört. Das „Gefühl“, nicht genug gegeben zu haben und nicht gut genug gewesen zu sein, gehören zur Mutter. Ich schreibe "Gefühl" in Anführungszeichen, weil das keine echten Gefühle sind. Auch die Mutter hatte bestimmt das gleiche Thema in ihrer Kindheit und gab nur das weiter, was sie erlebt hatte. Dahinter stecken genauso Wut, Trauer usw. Nur ist der kindliche Anteil des Klienten nicht der richtige Adressat dafür. Idealerweise kann der kindliche Anteil an die mittlerweile erwachsene Person andocken, so dass der Mutter-Anteil entlassen werden kann. Der Klient kann sich jetzt der Liebe zuwenden, ihr näherkommen, vielleicht sich sogar ein Stück mit ihr verbinden. Das Eigene, also das, was zu mir gehört, ermöglicht eine liebevolle Selbst-Verbindung, die durch Fremdanteile bislang unterbrochen oder blockiert war. So öffnen sich neue Wege, ein neues Lebensgefühl wird möglich, ebenso eine neue Beziehungsqualität, aber auch neue Herausforderungen und Lernschritte.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Habe ich das Gefühl, dass ich manchmal etwas erlebe, das gar nicht zu meinem Leben oder zu mir dazugehört?
  • Gab es in meiner Kindheit klare, gesunde und liebevolle Grenzen in Beziehungen? Oder habe ich z. B. körperlichen oder emotionalen Missbrauch erlebt? Haben meine Eltern z. B. getrunken? Waren die Bezugspersonen unzuverlässig? Bildlich gesprochen: Wurde aus einem emotionalen Glas getrunken?
  • Haben meine Vorfahren schwere Schicksale gehabt? Gab es Erfahrungen von Krieg, Flucht, Verlust (von Menschen, von Besitztümern, großen Geldmengen usw.)? Spüre ich noch eine Verbindung zu diesen Schicksalen? Habe ich das Gefühl, dass da etwas unter den Teppich gekehrt wurde?
  • Darf es mir gut gehen, auch wenn es anderen schlecht geht?
  • Habe ich manchmal Gefühle und Emotionen, die über längere Zeit nicht weggehen? Kann ich sie zuordnen? Entstammen sie meiner Lebensgeschichte? Oder entstammen sie einer fremden Lebensgeschichte? Oder ist es gemischt? Oder habe ich darauf gar keine Antwort?
  • Fühle ich mich geliebt? Fühle ich mich willkommen auf dieser Welt? Fühle ich mich (vom Leben) ge- und beschützt? Oder denke ich, ich hätte es nicht verdient oder wäre nicht gut genug dafür? Kann ich die Trauer über das Nicht-Bekommene zulassen? Wo steckt der Schmerz darüber? Ist er buchstäblich noch irgendwo in den Knochen? Oder kann ich ihn bereits Schicht für Schicht in seiner puren Form (ohne Leid, ohne Selbstmitleid, ohne Wut) zulassen? Wäre ich bereit, das in Begleitung zu tun oder überwiegt noch die Angst davor?

 

 

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Bildnachweis:  
Bilder von Alexandra Haynak