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Schmerzvermeidung als typisch menschliches Muster: Zwischen Status quo und Veränderung.
Oder: Pause und Abbruch in der Therapie

 

Inhaltsverzeichnis

 

Schmerzvermeidung ist etwas typisch Menschliches.

Schmerzvermeidung ist etwas typisch Menschliches. Wozu sich extra dem Schmerz aussetzen, wenn er sich erst einmal vermeiden lässt? Dazu gesellt sich die Hoffnung, dass es von alleine besser wird. Da ich schon einiges an Zahnarztgeschichten durchgemacht habe, ist mir die Zahnarztmetapher nahe: Vielleicht ist es nur eine Reaktion auf etwas Saures? Oder nur das Zahnfleisch? Oder nur ein bisschen Kälte? Geht es vielleicht weg? Einmal Schmerztablette nehmen und weiterschauen? Irgendwann folgt die Einsicht: Der Gang zum Zahnarzt ist dran. Ein schlauer Arzt verkneift sich die Bemerkung: „Warum sind Sie nicht früher gekommen?“ Ich bin da meinen Klienten gegenüber noch ein Stückchen offener und sage ihnen direkt, dass es dieses „Wäre ich doch früher gekommen...“ gar nicht gibt. So sind wir Menschen. Wir harren aus, erdulden, hoffen – bis es eben nicht mehr geht. Der Leidensdruck nimmt zu und dann öffnet sich eine neue Tür. Oder, viel eher, wir sind diejenigen, die dann bereit sind, diese Tür zu öffnen.

Warum man diese Tür gerne übersieht...

Es ist nicht so, dass diese Tür nicht da wäre. Sie ist immer da. Die Option gibt es immer. Wir sind aber auf Sicherheit bedacht, es ist unsere natürliche Prägung. Lieber nehmen wir das, was wir kennen, auch wenn es schlimm ist, als etwas, was wir noch nicht kennen. Zumal die moderne Welt so einige Strategien bereit hält, den Schmerz zu betäuben. Und dann kommen die Gedanken, die Einwände erheben: „Vielleicht wird alles nur noch schlimmer? Und man weiß ja überhaupt nicht, was einen hinter der Tür erwartet. Lauert da ein Monster? Spukt es da wie in einem Geisterschloss?“ Zumal die Tür verschwindet, sobald wir durch sie hindurchgegangen sind. Ein Zurück gibt es nicht. Und vielleicht kommt zuerst kein neuer Raum, sondern ein langer Flur, in dem das Alte schon weg ist und das Neue noch nicht da. Der Leidensdruck muss also entweder hoch genug sein, damit ein Mensch dann doch diese Tür entdeckt und sich auch zugesteht, dass er dadurch gehen wird. Oder aber er kennt bereits diese Prozesse und kann sie von einer gewissen Meta-Ebene (also reflektiert, als eine Art Betrachter) einschätzen: „Ich habe das bereits gemacht, ja, es war anstrengend und teils unangenehm, aber es hat mir viel gebracht. Und deswegen entscheide ich mich bewusst, es noch einmal zu machen, wenn es wieder so weit ist, auch wenn mir dabei etwas mulmig zumute ist.“ Das ist auch meine Haltung, die ich aber mit eher wenigen Menschen teile. Ich erlebe auch immer wieder, dass auch nach einer Bekanntschaft mit „Ich gehe durch eine Tür in etwas Neues“ einige Klienten nicht wieder kommen. Woran liegt es?

Die Schmerzvermeidung schlägt wieder zu

Unser Prinzip der Schmerzvermeidung lässt sich nicht komplett dadurch überwinden, dass wir Bekanntschaft mit den „Durch-die-Tür-gehen-Prozessen“ machen. Die Kräfte zwischen „Ich-will-den-Prozess“ und „Ich-erhalte-den-Status-quo“ können sich jederzeit wieder verschieben. Und das gilt es zu respektieren und zu berücksichtigen. Ich hatte schon mal Klienten, die durch eine Tür gegangen sind oder kurz durch eine geguckt haben und dann die Therapie beendet haben. Oder sie standen in mehreren Sitzungen vor der Tür, betraten den Raum aber nicht. Anscheinend haben sie sich erst einmal oder auch für immer für den Status quo entschieden. Sie haben dann die Möglichkeit, später ihre Entscheidung zu überprüfen. Das Leben wird ihnen sowieso Aufgaben präsentieren, die sie genau an den Punkt zurückführen werden. Irgendwann werden sie den Widerstand aufgeben (oder bis zum Schluss verbissen durchhalten, diese Möglichkeit gibt es auch) und sich vom Leben selbst transformieren lassen oder gezielt in eine Sitzung gehen. Ich bin jedenfalls gespannt, ob ich sie je wiedersehe.

Bei anderen Klienten, bei denen ich eine Verschiebung zugunsten der Schmerzvermeidung erspüre, empfehle ich z. B. den Rhythmus zu ändern oder eine kürzere oder längere Pause einzulegen, bis etwas im Leben passiert, innerlich oder äußerlich, das ein neues Startsignal gibt und die Kräfte wieder zugunsten der neuen Tür verschiebt.

Die Meta-Ebene trifft die Entscheidung

Das ist eine Entscheidung für „Fortgeschrittene“, die bereits durch einige Türen gegangen sind und z. B. selbst therapeutisch oder beraterisch tätig sind. Letzteres ist aber keine Voraussetzung. Sie können sich bewusst, von der oben erwähnten Meta-Ebene / Beobachter-Ebene für einen Prozess entscheiden. Auch hier darf es keine reine Kopf-Entscheidung sein und schon gar keine ehrgeizige. (Okay, man kann es ausprobieren um festzustellen, dass es vom Ehrgeiz her nicht klappt. Auch ein Lerneffekt!) Das Einhalten des Rhythmus und der inneren Prozess-Reife bleiben auch hier wesentlich. Das (bedingungslose) Commitment zu diesen Prozessen ermöglicht noch eine andere Tiefe und eröffnet neue Möglichkeiten. Von außen betrachtet kann es dann wie Fleißarbeit aussehen oder wie ein Suchen mit der Lupe, auf dem Level gehört es aber durchaus dazu, dass man sich auch mit Kleinigkeiten auseinandersetzt.

Zusammenfassung

Im Endeffekt gibt es, was die besagte Tür zum Neuen angeht, mehrere Optionen:

  • Am Status quo festhalten, solange es geht. Auch wenn das Leben selbst am Status quo rüttelt, trotzdem mit allen Mitteln daran festhalten, auch wenn das Leben dadurch immer weiter an Qualität verliert. Verstärkt das Leben das Rütteln am Status quo, praktiziert man die Methode „mehr vom selben“ (und wundert sich darüber, dass das nicht funktioniert bzw. die Symptome schlimmer werden oder sich verschieben, also an einer anderen Stelle wieder auftauchen).

  • Am Status quo festhalten, solange es geht. Wenn das Leben am Status quo rüttelt, versuchen, daran festzuhalten. Bei erneuter Wiederholung einsehen, dass der Gang durch die Tür dran ist. Sich dem Prozess stellen.

  • Eine Offenheit für neue Türen entdecken oder erarbeiten. Sich auf sein Gespür verlassen, auf die eigenen Impulse hören und die eigene Reife überprüfen, wann die nächste Tür „dran“ ist.

  • Radikales Commitment zu den Türen: gezielt nach Türen suchen, eine Lupe in die Hand nehmen, sich der Entdeckungsreise und den transformatorischen Prozessen verschreiben. Alles, was im Leben passiert, als Spiegelung und Hinweise für mögliche Türen und den aktuellen Stand betrachten und Konsequenzen daraus ziehen.

Beachten Sie bitte, dass diese Reihenfolge keine Wertigkeit beinhaltet! Radikales Commitment ist etwas ganz anderes als das Festhalten am Status quo. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Und es gibt immer gute Gründe, warum jeder von uns sich für eine bestimmte Vorgehensweise entscheidet. Es kann eine Typfrage sein. Einige von uns sind mehr auf Sicherheit bedacht und tendieren zum Aufrechterhalten des Status quo. Andere von uns sind äußerst offen für Entwicklung und Neues. Und viele sind irgendwo in der Mitte oder schwanken mal zur einen, mal zur anderen Seite. Typisch menschlich bleibt aber der Punkt der Schmerzvermeidung. Ganz ausschalten lässt sich dieses evolutionäre Erbe nicht, es lässt sich aber von der Meta-Ebene / Betrachter-Ebene mit etwas Distanz und Gelassenheit betrachten.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Wie schätze ich mich selbst ein? Bin ich ein absoluter Schmerzvermeider? Halte ich wie verrückt am Status quo fest? Jagt mir jede kleinste Veränderung bereits höllische Angst ein? Oder bin ich im Gegenteil sehr offen für Neues und freue mich über jede Tür, die sich öffnet, erkunde sie mit Freunde und betrachte die Unannehmlichkeiten, die durch diese Prozesse verursacht werden, als natürlichen Teil des Lebens? Oder bin ich irgendwo dazwischen?

  • Wie sieht es mit meinem Leidensdruck aus? Auf welcher Ebene ist er am höchsten? Streikt mein Körper? Habe ich emotionale Probleme? Oder Schwierigkeiten in Beziehungen? Oder bin ich spirituell gesehen etwas verloren, so dass ich z. B. nicht genau weiß, wer ich bin und wozu mein Leben gut sein soll?

  • Reicht mein Leidensdruck, so dass ich mich entscheide, durch eine Tür zu gehen? Nach dem Motto: Alles besser als das, was jetzt ist? Oder traue ich mich noch nicht ganz? Befürchte ich, dass es nur noch schlimmer werden kann? Habe ich Angst, die Kontrolle zu verlieren?

  • Was muss noch passieren, damit ich die Tür entdecke und mir auch den Wunsch eingestehe, durch sie zu gehen?

  • Was ist mein typisches Reaktionsmuster, wenn sich am Status quo etwas ändert? Trete ich die Flucht an? Oder kämpfe ich? Oder werde ich ohnmächtig / erstarre ich? Oder reagiere ich manchmal mit Erleichterung und Entspannung? Oder mit Neugierde und Vorfreude?

  • Was hindert mich daran, mich mit dem Leben und seinen Herausforderungen mitzufließen? Durch welche Türen müsste ich gehen, um weniger starr und unbeweglich zu werden? Um das Fließende mehr in mein Leben kommen zu lassen? Spüre ich die Verspannungen in meinem Körper, die mich daran hindern? Oder die ungeweinten Tränen? Die unausgedrückte Wut? Das erkaltete oder verletzte Herz? Den verkrampften Bauch?

 

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Bildnachweis:
Bilder von Arek Socha / Pixabay